Tautropfen hangeln sich silbrig glänzend an Spinnweben entlang, knallrote Äpfel lassen die Äste durchhängen, Laubwälder betören mit prächtigen Farben. Der goldene Herbst beschert Radfahrern einen Rausch der Sinne.
Hans Meinecke's Jubelschrei hallt zigfach von den umliegenden Wänden. Gerade noch spiegelten sich die quietschgelb bis kupferroten Laubbäume 1:1 in der ruhigen Oberfläche des Weitsees. Doch nun zieht der erfahrene Fischer schon seinen zweiten kapitalen Hecht aus dem Wasser und das gestochen scharfe Abbild zerfließt abermals zum herbstlich psychedelischen Impressionismus.
Die Seentrilogie von Weit-, Mitter- und Lödensee gilt im Sommer als die Riviera des Chiemgaus. Jetzt im Herbst sind die Badetemperaturen der Gebirgsseen zwar nur noch für die ganz Hartgesottenen geeignet, dafür lässt sich der mustergültige Mischwald ohne jeglichen Trubel genießen. In Kanada nennt man so eine überwältigende Farbpalette "Indian Summer". Und nur so viel vorweg: Der Indianersommer in den Chiemgauer Alpen kann es locker mit jenem der Rocky Mountains aufnehmen.
Aber alles der Reihe nach. Der Startschuss für unsere dreitägige Chiemgau-Runde ertönte in Traunstein. Schon die ersten Radumdrehungen führten uns in ein Bermudadreieck aus Wohlgerüchen. Unter den Arkaden des Stadttors duftete es nach frisch gebrühten Würsten, die Stände des Wochenmarkts schichteten Schinken und Käse turmhoch auf. Die Herbstsonne kletterte über die Kirchturmspitze von Sankt Oswald. Sofort war klar, nichts wie weg. Sonst würden wir die gut 238 Kilometer unser großen Chiemgau-Herbst-Runde niemals in drei Tagen schaffen. Unter lichtdurchfluteten Weiden strampelten wir am Ufer der Traun bis nach Siegsdorf und trafen unvermittelt auf ein lebensgroß nachgebautes Mammut. 1975 wurden dort 45000 Jahre alte Mammutknochen gefunden. Seit 1995 offenbart das kleine, aber feine Museum nun allerlei Wissenswertes über die Steinzeit im Chiemgau.
Schon wenig später in Ruhpolding, dem Mekka der Biathleten, war es um unsere Moral geschehen. "Extra bavariam non est vita et si est vita non est ita", lautet das Motto der Ruhpoldinger "Windbeutel-Gräfin". Frei aus dem Lateinischen übersetzt will diese Holztafel über dem prächtig herausgeputzten Gasthof ganz bescheiden klarmachen: Außerhalb Bayerns gibt es kein Leben und wenn doch, dann nicht dieses. Und wie zum Beweis, kam die Kellnerin mit ihrem hübschen Dirndl schwungvoll ums Eck. Nicht nur der XXL-Windbeutel mit Sauerkirschen und Vanilleeis war eine Augenweide. Direkt dahinter stiegen auch noch die Bergzacken der Chiemgauer Alpen in die Höhe. Tja, an Tagen wie diesen gibt es nicht den geringsten Zweifel an dieser lateinischen These.
Vorbei am riesigen Biathlonstadion brachte uns ein herrlich welliger und kurvenreicher Radweg zuerste durch einen funkelnden Märchenwald und dann zu Hans, der freudestrahlend seine Hechte vermaß.
Weiter geht’s: Der Radweg bleibt ein Gedicht und führt zum berühmten Reit im Winkl. Seit Rosi Mittermaier von der nahen Winklmoosalm 1976 bei der Olympiade in Innsbruck jede Menge Edelmetall abräumte, gilt Reit als stehender Begriff im Wintersport. Wir verlassen die urbayerischen Gefilde für eine kleine Stippvisite in Tirol. Über Kössen und etliche zusätzliche Höhenmeter gelangen wir zurück in den Chiemgau zu den markanten Felswänden des Klobenstein. Der Radweg folgt dem Tiroler Achen, schlängelt sich weiter zu den herbstlich gewandeten Gipfeln des Geigelsteins und der Hochplatte. Auf dem Salinenweg queren wir nordwestlich nach Bernau, dem Tor zum Bayerischen Meer - dem Chiemsee.
Ein wundervoller Pfad durch mehr als mannshohes Schilf leitet runter zur Uferpromenade. Auf der Herreninsel leuchtet das bayerische Versailles, das prächtige Schloss Herrenchiemsee, das der Schöngeist König Ludwig II hier 1878 errichten ließ. Dahinter strahlen die frisch angezuckerten Gipfel der Chiemgauer Alpen wie die frisch gebleachten Zähne von Hollywood-Diven.
Urige Biergärten und zahllose Badestrände wollen uns sirenengleich vom Sattel zerren. Weißwürste mit Brez'n und ein Weißbier zum Frühschoppen, Obazda, Schweinshax'n mit Knödl locken die mit Kreide beschriebenen Werbetafeln der Wirtshäuser. Oder vielleicht nur ein Eisbecher und die Füße vom Steg in das Bayrische Meer baumeln lassen, sozusagen Dolcefarniente in Bella Bavaria. Schafwaschen, Gstadt, auf perfektem Asphalt rollen wir weiter nach Breitbrunn und Seebruck. An manchen Kreuzungen hängen bald 8 Radwegetafeln. Chiemgau-Radweg, Mozartweg, die Bayuwaren-Tour... der Chiemgau lässt sich auf vielen tollen Radrouten erobern. Wir bleiben erstmal auf dem "Benediktweg". Der Werdegang des Bayrischen Ex-Papstes ist stark mit seiner Region verwoben. So lag es nahe, einen Radweg, den am 11.08.2005 eingeweihten Benediktweg, ins Leben zu rufen. Er kombiniert über 248 kongeniale Kilometer lang, die inflationäre Anhäufung an Klöstern, Kirchen, Kapellen, profaner und sakraler Kunst mit der Schönheit der „Terra Benedicta“.
Der Alz-Salzach-Weg bietet leicht hügeliges, nahezu autofreies Gelände. Wir pedalieren mit einem zufriedenen Lächeln durch bis Tittmoning. Dem "Traumland meiner Kindheit“, so Joseph Ratzinger in seiner Biografie. Dort verlebt er im „Stubenrauchhaus“, einem stattlichen Bau, seine Kindheit, geht zu den Englischen Fräulein in den Kindergarten und genießt die idyllischen Spaziergänge im Kreise der Familie zur Wallfahrtskirche Maria Brunn. Als dort 1930 anlässlich einer Firmung Kardinal von Faulhaber von den Kindern begrüßt wird, begeistert er sich bereits für den purpurnen Talar des Erzbischofs. „Ich werde auch mal Kardinal“, prophezeit er damals schon bestimmt.
Auf dem Bayuwaren-Radweg machen wir gen Süden kehrt. Wiesmühl, Harmoning, Tengling, die Wälder glühen blutrot, scheinen zu brennen. Die Hügel um den Tachinger See fordern die Waden. Es folgt der wärmste Badesee Bayerns, der Waginger See. Selbst im Herbst muss die Badehose noch mit. Das Thermometer pegelt sich bei über 25 Grad Celsius ein. Kurz mal die Radschuhe über den Bayrischen Beach kicken und rein in das angenehm weiche Moorwasser. Wir bleiben im einsamen Rupertiwinkel. Die Route bleibt leicht zu fahren, fast immer vom Verkehr verschont und durchwegs opulent. Über Holzhausen und den Via-Julia-Radweg endet das weiß-blaue Schmankerl wieder in Traunstein. Wahrlich eine Traumrunde - nicht nur im Herbst.
Allgemein: Die beschriebene Tour (239 km/1280 Höhenmeter) mit Start und Ziel in Traunstein lässt sich in drei Tagen à ca. 80 km und mit 2 bis 3 Übernachtungen absolvieren. Sie lässt sich beliebig individuell gestalten. Die Vielzahl der Badeoptionen und die intakten Mischwälder prädestinieren sie für eine Sommer- oder Herbsttour.
Weitere Infos: www.chiemgau-chiemgau.info , Chiemgau Tourismus, Seuffertstraße 12, 83278 Traunstein, urlaub@chiemgau.bayern, +49 (861) 988 231-20, umfangreiches Portal mit vielen Pauschalreiseangeboten, Hotels und Pensionen, Karten- und Prospektdownload und Tipps zu allen Radwegen, Radverleih (auch Elektrorädern), Werkstätten und Ladestationen.
Karten: ADFC-Regionalkarte, Chiemgau, 6,80€
Über den Autor*Innen
Norbert Eisele-Hein
Der Münchner Fotojournalist Norbert Eisele-Hein finanzierte bereits sein Ethnologie-Studium in München und London mit bildgewaltigen Reisereportagen für namhafte Magazine. Ehe er sich vollauf der Outdoor- und Actionfotografie widmete, assistierte er bei zahlreichen Studiofotografen in München und London, um das Handwerk von der Pike auf zu lernen. Die Lust am Schreiben wuchs dabei beständig mit.