Caorle Slow Tourism – Der Luxus der Entschleunigung

Caorle Slow Tourism – Der Luxus der Entschleunigung - (c) Maren Recken

Es duftet nach Kürbis, Steinpilzen und Baccalà. Der verführerische Geruch kommt aus zwei großen Töpfen, in denen Luca Faraon vor einer Gruppe hungriger Radfahrer Risotto zubereitet. Mit Kürbis und Steinpilzen den einen, den anderen mit dem in der Küche Veneziens traditionell verwendeten Stockfisch: Show Cooking auf dem landwirtschaftlichen Betrieb La Fagiana. „Risotto muss ständig gerührt werden, das verteilt die Reisstärke. Kurz vor dem Servieren kommt noch etwas Butter dazu“, verrät der Koch, was den Risotto cremig macht.

Das Show Cooking unter freiem Himmel ist der Abschluss einer Fahrradführung entlang der Reisfelder von La Fagiana. Wir sind von Caorle aus rund elf Kilometer auf Radwegen und am Kanal entlang nach Südwesten pedaliert und haben uns zur Führung einer Gruppe radelnder Hundebesitzer angeschlossen, die mit ihren Vierbeinern das Radfahren übt und gleichzeitig etwas über den Reisanbau erfahren möchte. Auch wenn Italien mit 55% Marktanteil der größte unter den europäischen Reisproduzenten ist, wie Michele Conte, der die Gruppe durch den 460 Hektar großen Betrieb führt, erzählt, sei der Reisanbau auf La Fagiana eine Ausnahme. Normalerweise findet der italienische Reisanbau in der Poebene statt und nicht hier zwischen Jesolo und Bibione. „Wir haben uns trotzdem seit rund 30 Jahren auf Anbau und Verarbeitung von Carnaroli-Reis spezialisiert, mit allem Drum und Dran. Wir brauen sogar Reisbier“, macht Conte seinen Zuhörern den Mund wässrig. Und berichtet vom ehemaligen Sumpfgebiet, das sich hier in der östlichen Lagune von Venedig, befand, bevor Anfang letzten Jahrhunderts durch Trockenlegung die landwirtschaftlichen Nutzflächen entstanden.

Auf unseren durch die App „Caorle Slow Tourism – Hike & Bike“ inspirierten Radtouren ins Hinterland des Adriabadeorts erfahren wir noch viel über die Trockenlegungen und Urbarmachung der Lagune und entdecken den Charme ursprünglicher Lagunenlandschaft, die Heimat einer artenreichen Flora und Fauna ist. Auf asphaltierten oder geschotterten Radwegen, ruhigen Nebenstraßen und manchmal, wenn wir abkürzen auch entlang stark befahrener Straßen, sind die ebenen Radtouren ins Umland  von „klein Venedig“, wie Caorle auch genannt wird, eine gute Ergänzung zum quirligen Fischerstädtchen mit seinen bunten Häusern in der Innenstadt. Hier flaniert man bis nachts durch Gassen, die früher einmal Kanäle waren. Bummelt durch die Geschäfte, wenn andernorts schon längst geschlossen ist. Hier ein Eis, dort einen Spritz. Dass der 48 Meter hohe Glockenturm auf sumpfigem Untergrund und darum schief steht, haben wir zum Glück schon vor dem Aperitif entdeckt. Dass Caorle viel mehr zu bieten hat als den unserer vorurteilbehafteten Fantasie entsprungene Teutonengrill, dessen Ursprung in den 60er Jahren liegt, als die Sonnenanbeter begannen in Scharen an den 18 Kilometer langen Sandstrand zu pilgern, um sich stundenlang in der italienischen Sonne zu grillen, erfahren wir während unseres fünftägigen Aufenthalts in Caorle während jeder Radtour aufs Neue.

2020 sei die gemeinsame Idee der Gemeinde Caorle und eines Organisators von Sportevents entstanden, Caorle nicht nur als sommerlichen Badeort erlebbar zu machen, sondern den Fokus auch auf die Entdeckung des Hinterlands zu richten und auf einen nachhaltigen, langsamen und ökologischen Ganzjahrestourismus, erzählt Mauro Miani, der das Projekt Caorle Slow mitentwickelt hat. Mitte 2021 ging dazu die kostenfreie dreisprachige App (Italienisch, Englisch, Deutsch) „Caorle Slow Tourism - Hike & Bike“ an den Start. Dafür wurden rund 300 Kilometer Rad- und Wanderwege ins kaum bekannte Hinterland erschlossen und zu derzeit 50 Touren in der App zusammengefasst. Erweiterung geplant. „Die App führt zu landwirtschaftlichen Betrieben, regt zu Besichtigungen an, lädt ein, die typischen Spezialitäten der Region zu verkosten oder einfach die Natur zu entdecken“ charakterisiert Mauro die Rad- und Wander-App. Zu den Tourenvorschlägen sind jeweils Streckenlänge und -beschaffenheit, Schwierigkeitsgrad, Familientauglichkeit oder der Themenschwerpunkt der Routen erfasst. Ein individuell einstellbarer Filter erleichtert die Routenwahl. Lediglich: Die Routenführung funktioniert mittels Geolokalisierung nur direkt per Handy in der App. Der Download, um die Touren aufs eigene Navi zu übertragen, ist nicht vorgesehen.

Wir stellen den Filter in der App auf önogastronomisch und historisch und treten in die Pedale, Richtung des rund 3 Kilometer entfernten Ca‘ Corniani. Zunächst geht es ohne App am historischen Hafen von Caorle vorbei, in dem die Fischerboote liegen. Dann nehmen wir den Radweg am Canale dell’Orologio und folgen schließlich der Straße am Ufer des Livenza. Die App aktivieren wir erst für eine Tour durch „Ca‘ Corniani - Terre d’avanguardia“, wie sich der landwirtschaftliche Betrieb selbst bewirbt, der zu Genagricola und damit zur Generali Versicherung gehört. Avantgardistisch habe sich Ca’ Corniani schon immer gezeigt, erklärt Francesco Marchese, bei Genagricola fürs Marketing zuständig, während wir durch das Betriebsgelände radeln, vorbei an blühenden Wiesen und Feldern in eine Allee hinein. Die Dinge, die Francesco als Belege dafür aufzählt, warum Ca‘ Corniani ein fortschrittliches Fleckchen Erde ist, seit das ehemals zur Republik Venedig gehörende Sumpfland erst an eine Familie Corniani und dann an die Generali Versicherung verkauft wurde, sind einige: 1851, mit Erwerb durch die Generali, erfolgte die erste und größte privat finanzierte Trockenlegung Italiens; zeitglich entwickelte sich Ca‘ Corniani zu einem autarken Arbeiterdorf mit großen Brennöfen zur Ziegelherstellung für den Hausbau, Arzt, Post und eigener Schule, lange bevor die Schulpflicht eingeführt wurde. 1880 entstand hier die erste stationäre dampfbetriebene Entwässerungspumpe der Gegend, erzählt uns Francesco während wir zum frisch restaurieren Pumpengebäude fahren. Wer sich zur Erkundung von Ca‘ Corniani noch eine firmeneigene App herunter lädt, kann damit auch die Tür zum interaktiven Museum im Pumpenhaus öffnen. Bis in die 1960er Jahre hatte das Dorf Bestand, dann schwand, bedingt durch die Technisierung der Landwirtschaft, die Nachfrage nach Arbeitskräften, die Entvölkerung begann.  Heute ist das Dorf bereits in Teilen liebevoll restauriert. Die avantgardistische Ausrichtung von Ca‘ Corniani zeigt sich nicht mehr in Schule und Entwässerungspumpe, sondern in dem, was über die landwirtschaftliche Bewirtschaftung hinausgeht und den Ort touristisch interessant macht: Eigene Radwege (ein Teil der geplanten 32 Kilometer wurde bereits realisiert), interaktive Ausstellungen zur mit dem Betrieb verknüpften Kulturgeschichte der Gegend, eine große Radverleihstation mit Duschen oder fest installierte Kunstobjekte des Mailänder Künstlers Albert Garutti, die die drei Betriebseingänge kennzeichnen. „Anders als in der Toskana, wo die landwirtschaftlichen Anwesen häufig weit sichtbar auf einem Hügel liegen, erkennt man in Venezien nicht, wo ein Eigentum ins andere übergeht“, erklärt Francesco das Bestreben, die drei Zugänge zum Gelände sichtbar zu machen. Weil Schilder zu profan gewesen wären, hätte man sich für Kunstwerke entschieden. Eines davon: ein goldenes Dach auf einem der ältesten Gebäude in Ca‘ Corniani, das schon als Kirche, Wohnhaus oder Getreidelager genutzt wurde, soll durch die Sonnenreflektion das Gebäude symbolisch wiederbeleben. Bevor es zurück geht nach Caorle, ist noch ein Stopp im stilvoll restaurierten Weinkeller von 1875 drin, in dem wir die von Genagricola italienweit produzierten Weine verkosten.  

Auch kulinarische Genüsse sind Teil von Caorle Slow. Im Fischspezialitätenrestaurant Da Buso könne man sich, ohne Sorge dies überteuert zu bezahlen, auf die tagesfrische Empfehlung des Küchenchefs verlassen. Auch wenn gute Qualität ihren Preis habe, versichert Andrea Manzato. Er betreibt das Da Buso gemeinsam mit seiner Frau. Dass er eigentlich Architekt ist, sieht man seinen gekonnt arrangierten Kreationen an. Dass kochen seine Leidenschaft ist, schmecken wir schon beim ersten Bissen. Etwas abseits in einer Nebenstraße gelegen, ist das Restaurant fast noch ein Geheimtipp. Zumindest unter Touristen, die nur rund 7% der Gäste ausmachen. „Zukunftsorientiert und in der Vergangenheit verwurzelt“, beschreibt Andrea seine Küche, die auf traditionellen Rezepten wie Moscardini in umido (gekochte Moschuskraken) oder Sarde in saor (frittierte mit süßsauren Zwiebeln marinierte Sardellen) beruht. Erweitert um moderne Komponenten wie Vakuumgaren oder roh zubereiteten Fischgerichte. „Bei rohem Fisch schmeckt man am besten die Qualität“, verrät er uns, warum Crudo di mare sein persönliches Lieblingsgericht ist.

Uns bleibt nur noch ein Tag, um das Umland von Caorle entschleunigt zu endeckten, darum kombinieren wir zwei Touren aus der App (Carole Vallevecchia-Brussa und Caorle Bosco delle Lame) und fahren zuerst mit dem Rad nach Falconera und mit der Fähre weiter ins Naturschutzgebiet Vallevecchia. Die von Meer-, Lagunen- und Flusswasser umgebene Insel ist der einzige nicht urbanisierte Küstenabschnitt an der oberen Adria, mit Salz- und Süßwassersumpf, sechs Kilometern naturbelassenem Sandstrand, Pinienwald, Dünen und und Agrarflächen für den Anbau alter Getreidsorten. „Für Zugvögel ist die Naturoase ein willkommener Rastpunkt“, erklärt Francesco Fagotto, Leiter des dortigen Versuchsbetriebs der Region Venezien, auf einem der Vogelbeobachtungstürme. Luftlinie liegen Caorle und Vallevecchia einen Katzensprung auseinander. Doch dazwischen liegt die Lagune von Caorle. Die dort im letzten Jahr in Betrieb genommene Fähre wird von Radfahrern stark frequentiert: sie erspart die knapp 30 Kilometer lange Fahrt außen herum und ermöglicht eine Blick auf die Casoni, die typischen Fischerhütten aus Schilfrohr, vom Wasser aus. Für den Rückweg verzichten wir trotzdem auf die Fähre und ziehen den Landweg durch den Bosco delle Lame, den Wald der Sümpfe, vor. Ein rund 24 Hektar großes Waldstück auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Concordia Sagittaria in ehemaligem Sumpfgebiet, in dem Hainbuchen, Feldahorn, Silberweiden und Eschen wachsen, dazwischen Wiesenblumen und Schachtelhalm. Ein romantisches Fleckchen umgeben von Agrarflächen und Entwässerungskanälen, Ende der 1990er Jahre im Rahmen eines Renaturalisierungsprojekts angelegt. Mit etwas Geduld, und falls es in die Abendstunden geht ausreichend Mückenspray,  lassen sich dort Rehe, Fasane, Füchse, Hasen oder Eichhörnchen beobachten. Die Zeit dafür sollte man sich gönnen, schließlich geht es bei Caorle Slow Tourism bei allen Touren ja auch um den Luxus der Entschleunigung.

Autorenbewertung: Genussradler und radelnde Genießer sind in Caorle genau richtig. Dolce vita mit Mee(h)rwert.

Informationen zum Urlaub in der Region Caorle

Unterkunft
The One Caorle Hotel & Appartements, 4-Sterne-Superior
Neues Luxuskonzept mit modernem Design und einer sehenswerter Dachterrasse auf dem höchsten Gebäude der Stadt. Die gläserne Brüstung lässt den Infinity Pool nahtlos ins Meer übergehen. Und abends einen Drink in der Sky Bar 360° by Pommery. Weitere Informationen zum Hotel...

International Beach Hotel, 4-Sterne-Superior
Alteingesessenes familiengeführtes Hotel in neuem Look. Gastberber Molena pflegt einen herzlichen Kontakt zu den Gästen. Der Strandplatz ist im Preis ebenso inklusive wie Fahrräder, darunter auch Kinderräder. Ganzjährig geöffnet. Der Hotelchef: „Wir haben immer mehr Radfahrer unter unseren Gästen, das verlängert die Saison“. Weitere Informationen zum Hotel...

Kulinarik
Da Buso, ein Muss für Fischliebhaber mit Neugier auf traditionelle Gerichte und Offenheit für die modernen Komponenten von Chef Andrea Manzato. Platzreservierung empfiehlt sich. Weitere Informationen zum Restaurant...

Trattoria Mazarack, typisch venezianische Küche in Brussa, die „Sarde in saor“ gehören dazu. Ursprünglich diente die Marinade aus Zwiebeln auf Essig- und Ölbasis dazu, die zuvor frittierten Sardinen haltbar zu machen. Weitere Informationen zum Restaurant...

B2O, Craft-Bierbrauerei, deren Namen eine Anspielung auf die chemische Formel von Wasser H2O ist. Hier hat jeder Biername eine Geschichte: Edgar, ist nach dem Schwiegervater benannte, der den ersten Brauversuchen nicht getraut hat. Jam Session verdankt seinen Namen einem deutsch-italienischen Brauexperiment. Weitere Informationen zur Craft-Brauerei...

Wissenswert
App Caorle Slow Tourism Hike & Bike (auch in  Deutsch) kostenfrei über App Store und Google Play, derzeit 50 Rad- und Wandertouren. Wieter Informationen zur App...

App Ca‘ Corniani kostenfrei über App Store und Google Play, mit (Audio-)Erklärungen der Sehenswürdigkeiten (Italienisch/Englisch). Weitere Informationen zur App...

La Fagiana Radtour durch die Reisfelder mit Risotto Show Cooking (ab Mai, freitags 10.30 Uhr, 25 € pro Person) oder mit Aperitif (ab Mai freitags 18.30 Uhr, 15 € pro Person). Weitere Informationen zur Radtour...

Radverleih Caorle
Bike and Go Caorle im Landwirtschaftsgut Ca‘ Corniani, Verleih verschiedener Radtypen, auch E-Bikes und Kinderräder, Kinderfahrradsitze, Hunde Fahrradanhänger. Weiter Informationen zum Radverleih...

Karte mit Tourenvorschlägen als PDF zum Download oder über caorle.eu zu beziehen. Sieben Tourenvorschläge mit Längen zwischen 14 und 64 Kilometern.  

Fähre Caorle – Vallevecchia Reservierung erforderlich, Mobil oder WhatsApp, +39 347 9922959

Weitere allgemeine Informationen zu Caorle finden Sie hier...

Anreise
Mit dem Auto

Autobahnen A22 Brenner- Modena oder A4 Turin – Triest, Ausfahrt San Stino di Livenza/Portogruaro. Von San Stino auf der Landstraße SP61 weiterfahren, ab Portogruaro auf der SP68 bis Caorle.

Mit dem Zug
Am günstigsten zu Caorle liegen die Bahnhöfe San Donà di Piave, San Stino di Livenza und Portogruaro. Busse der ATVO fahren direkt bis Caorle. Fahrpläne/Buslinien finden Sie hier...

Mit dem Flugzeug
Flughafen Venedig Marco Polo
(Entfernung 57km)
Flughafen Treviso Canova (Entfernung 63km)
Von Mai bis September verkehrt von beiden Flughäfen ein Expressbus

Zur Einstimmung
Ernest Hemingway „Über den Fluss und in die Wälder“
, Rowohlt, 11€ ISBN 9783499104589
Der amerikanische Schriftsteller liebte Venetien und verbrachte viele Tage in einem kleinen Dorf in der Lagune von Carole. In seinem 1950 erschienen Roman hat er sie mit dem Satz „Sie kamen aus einem Ort weiter oben an der Küste, der Caorle heißt“, verewigt. Ein Buch über Krieg und Italien, Liebe und Tod und Natur.

Über den Autor*Innen

Maren Recken

Maren Recken ist als freie Journalistin mit Videokamera, Fotoapparat und Notizblock unterwegs. Häufig in Italien, am liebsten im Gespräch mit den Menschen vor Ort; auf der Suche nach einer besonderen Story und einem authentischen Reiseziel. Sie veröffentlicht online und in verschiedenen Tageszeitungen, dreht Videos und erstellt Imagefilme. Während und nach ihrem Germanistikstudium hat sie mit verschiedenen privaten Radio- und Fernsehsendern zusammengearbeitet. Bei La Nazione in Florenz hat sie in der Onlineredaktion erlebt, wie Journalismus in Italien funktioniert.