
Er ist zwar im strengen Sinne nur der Drittgrößte, dafür aber eindeutig der Schönste. Der 2713 Meter hohe Watzmann ist Deutschlands Berg der Berge, ein Alphazinken, ein Traumberg. Über 1800 Meter stürzt seine Ostwand jäh in den Königssee hinunter. Die gewaltigste Abbruchkante der gesamten Ostalpen. Nirgends hallt das Echo häufiger wider als dort unten am See. Watzmannfrau und Watzmannkinder heißen seine Nebengipfel. Doch diese Taufnamen werden bestenfalls der Anzahl der versteinerten Nachbarn gerecht. Denn wer das Massiv von Berchtesgaden aus betrachtet, dem bleibt die Spucke weg. Von wegen Familienidyll – der Gipfelreigen sieht aus wie das gierig aufgesperrte Maul eines Weißen Haies.
Bis zu 550.000 Gäste befördert die Schifffahrt jährlich über den Königssee, die allesamt vor der gewaltigen Ostwand erstarren und mit Ehrfurcht und Gänsehaut dem zigfachen Echo des schmetternden Flügelhorns lauschen. Das ist bereits beachtlich, doch wahren Kultstatus erhielt Berchtesgaden erst durch das Musical „Der Watzmann ruft“ des wohl berühmtesten österreichischen Liedermachers Wolfgang Ambros‘, der schon vorher mit der Skifahrerhymne "Skifoan" unsterblich wurde.
Die Handlung der aberwitzigen Bergbauern-Parodie ist schnell erzählt: Der Berg wird zur menschenfressenden Bestie, die Männer müssen aus Imponiersucht "auffi" und finden nicht selten den Tod. Zudem verspricht die frivole Gailtalerin der Jugend noch sexuelle Beglückung - falls Sie lebend vom Gipfel zurückkehren. Gesprochen und gesungen in Dialekt, war es der Renner in den 80er Jahren. Jeder Schüler konnte das komplette Stück rezitieren. Noch heute wird es auf großen Bühnen gespielt.
Wir haben uns ran gewagt. In einem herbstlich-nebelwabernden Selbstversuch. Denn die goldene Jahreszeit verleiht dem Mythos einen besonderen Glanz. Ran an den Watzmann, den Schicksalsberg. Um auf den Spuren von Bauer, Sohn, Großknecht und der ewig lüsternen Gailtalerin unser eigenes dreitägiges, traumhaft schönes "Bike-Rustikal" zu erfahren – Hollaröhdulliöh.
Erster Akt: Gotzenalm, "der Berg, der kennt koa Einsehn nit"
Die Rampe hoch zur Gotzenalm gilt als Klassiker. Doch die Tour hat es in sich. Heftig kurbelnd tauchen wir ein in den bereits herbstlich bunt gefärbten Wald am Faselsberg. Anfangs hängt der Nebel noch zäh in den Baumwipfeln. Lässt nur gelegentlich die Sonnenstrahlen auf dem Trail irrlichtern. Die Strecke fordert beständig mehr und mehr Druck auf dem Pedal. Das Quecksilber steigt, der Nebel hat vorübergehend verloren. Die ersten Ausblicke auf den Königssee, diesen funkelnden Smaragden, spornen uns an. Strubkopf, Büchsenkopf, Königsbachalm...die Waden zwacken bereits, doch jetzt geht die Tour erst richtig los. Auf den letzten 600 Höhenmetern schrammt die Steigung immer wieder an der 25 % Marke. So hart am physischen Anschlag fiel hier schon häufiger der O-Ton „Kotzenalm“. Endlich oben auf 1685 Metern grinst einen dann der Klecker Rudi, der Hüttenwirt an. Er bewirtschaftet die Hütte seit nunmehr bald 16 Jahren. Und er kocht richtig gut auf. Das Sahne Geschnetzelte und das Gulasch, butterweich. Eine Portion Kaiserschmarrn, locker und luftig, mit feinem Puderzucker - göttlich. Das Sonnenuntergangsspektakel mit dem Panorama der Watzmann-Ostwand, dem Steinernen Meer, dem Hagengebirge und dem Hohen Göll liefert das optische Sahnehäubchen. Windböen reißen immer wieder Fetzen aus vorbeischleichenden Nebelbänken, die zum Himmel auffahren und scheinbar die Sterne stehlen wollen.
Ja, ja die Gailtalerin, die Gailtalerin ...
Später beim Rotwein plaudert der Rudi aus dem Nähkästchen. Selbst heftiger Biker, war er schon mit dem Bike in den USA, auf den Kapverden ... sein persönlicher Fabelrekord hoch zur Hütte liegt bei 1.05 h. (die meisten brauchen zwischen 2,5 - 3 h!). Aber das ist schon lange her. Damals war die Bedienung hier oben sein "Gspusi" (hochdeutsch: Freundin) und die besuchte er fast täglich.
Frühmorgens hüpfen wir mit Gänsehaut geschwind in alle verfügbaren Klamotten. Noch in der Dämmerung biken wir auf einem Singletrail durch ein Lärchenwäldchen rauf zum 1741 Meter hohen Feuerpalven. Auf der exponierten Aussichtskanzel schweben wir über einer dichten Nebelsuppe. Die komplette Welt scheint in Watte gepackt. Der Königssee direkt unter uns wirkt wie ein Schaumbad... bereit für den Hechtsprung. Die furchterregende Ostwand des Watzmanns wächst direkt daraus empor. Urplötzlich steckt der Peitschenknall der aufgehenden Sonne alles in Brand, wühlt die Nebelsuppe auf und lässt die kalte Wand erröten. Heureka, was für ein Schauspiel. Wer denkt da noch an die Strapazen des Vortags.
Zweiter Akt: Litzlalm, „auffi muass i, auffi“
Wir starten am Südende des Hintersees in der malerischen Ramsau. Diese Route steigt gemach. Lässt uns genug Zeit den Kopf in den Nacken zu legen, um die spektakuläre Felsenarena zu studieren. Links schrauben sich der Hochkalter und die Hocheisspitze in den Himmel. Rechts dominieren die Mühlsturzhörner. Nomen est omen. Die Alpen heben sich jährlich um 3 mm, da ist Bewegung drin. Dadurch lösten sich im September 1999 sage und schreibe 250.000 Kubikmeter Fels von der Gipfelflanke des Kleinen Mühlsturzhornes. Das muss einen ordentlichen Rumms gegeben haben, wochenlang war die ganze Gegend eingestaubt, erfahren wir von der Infotafel. Wer auf der Hirschbichl-Straße kurz über die Stahlhängebrücke fährt, sieht noch heute die Abrissfläche. Die Tour bleibt technisch einfach, die Untergründe immer gut machbar. Gut so, denn das Ziel, die Litzlalm ist berühmt berüchtigt. Innen und außen urgemütlich und wie aus dem Alpinmuseum. Die Terrasse eröffnet ein umwerfendes Panorama. Kein Wunder also, dass sich Werbe- und Heimatfilmer hier die Klinke in die Hand geben. Auch ein paar Folgen der berühmten „Bergdoktor“-Serie wurden auf der Litzlalm bereits gedreht. Flankiert von Zirbenholz, Hirsch- und Gemsengeweihen schmeckt die Brotzeit besonders gut. Ein Schnapserl geht noch… am Ende cruisen wir erneut durch zähen Nebel, zurück zum Hintersee – wohlgemerkt mit der Stirnlampe auf dem Kopf, die das spukige Szenario erhellt.
Dritter Akt: Kühroint, „Vater, Vater, lass mi ziagn, der Berg i muass ihm unterkriagn“
Auch der Startschuss hoch zum Watzmann ertönt im dichten Morgennebel. Die erste Frostnacht hat uns gleich eine kräftige Schaufel Schnee aufgelegt. Der technisch einfache, aber beizeiten auch grimmig steile Forstweg führt in weiten Kehren über die Schapbachalm hinauf zum Fuß – oder femininer formuliert – zu den Beinen der Watzmannfrau. Nur gut, dass die Temperaturen nochmal sommerlich ansteigen. Somit gewinnt die Sonne den Kampf gegen die ersten Schneefelder und Eisplatten in den schattigen Kurven. Die Kührointalm bildet das Ende der Sackgasse. Mit dem Bike ist jetzt Schluss. Die Aussicht hinauf zum Watzmann-Massiv ist atemberaubend. Ein kurzer Fußmarsch zur Achenkanzel ermöglicht ein letztes Mal den ultimativen Tiefblick. Schier senkrecht hinunter auf den See, die kunterbunt gefärbten Wälder und die Wallfahrtskirche Sankt Bartholomä mit Ihren altroten Kugeldächern.
Wir kehren lebend zurück, allerdings ordentlich mit Schneematsch und Sand verkleistert. Unsere Entscheidung für den Herbst war angesichts der psychedelischen Stimmungen ein Glücksgriff, auch wenn wir eine Extraschicht Klamotten einpacken mussten. Der Watzmann hat uns nochmal davonkommen lassen. In der originalen Bühnenversion überlebt nur der tumbe Knecht. Er war schlicht zu faul, dem Ruf des Berges zu folgen und die Gailtalerin hat ihn nicht angemacht. In der Verfilmung wird das Musical sogar noch grotesker: Der Vater kehrt lebend vom Berg zurück und heiratet die Gailtalerin. Mit den Krediten einer Bank verwandeln sie den Bauernhof in ein Skigebiet. Befreit vom Watzmann hängen sie fürderhin in den Fängen der Banker.
PS: Ambros war, bevor er das Musical schrieb, noch nie auf dem Watzmann. Das österreichische Gailtal, wo die mannstolle Dirn herstammt, liegt auch ganz woanders. In Ambros' Heimat Österreich hätte es natürlich auch ein paar markante Berge gegeben. Aber der eigentliche Grund für die Namensgebung war der Hund eines Bandmitglieds: der Vierbeiner hieß "Watzmann". Erst 2005 stieg Ambros zusammen mit dem BR-Reporter Werner Schmidbauer auf den Watzmann und gab ein legendäres Interview mit Gipfelzigarette.
Das Watzmann-Musical war und ist ein genialer Glücksfall. Die Musik- und Filmwelt jedenfalls wurde dadurch um einen echten Paukenschlag reicher. Berchtesgaden hat so ganz nebenbei ein Musical als beste Werbung bekommen. Uns Bikern liefert dieser Stoff ein echtes Dreamteam – epischen Bikespaß in grandioser Bergwelt mit herrlich-schrägem, musikalischen Hintergrund. Das gibt es so wahrlich nur in Berchtesgaden.
Gut zu wisssen
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Karte - Mountainbike Berchtesgadener Land, Perle der Alpen, mit 25 Touren, Daten und Höhenprofilen und einer dreitägigen BGL-Bikerunde gibt es gratis über die Tourist-Info.
Tour I: Gotzenalm/Feuerpalven, 35,9 km, 1666 Höhenmeter, technisch mittel, konditionell schwer. Route: Der Klassiker. Von der Tourist-Info Berchtesgaden über Faselsberg nach Hinterbrand. Weiter beschildert (Bikeroute 9) über Königsbach- , Büchsen- und Gotzentalalm steil hinauf. Tolle Einblicke in Watzmann-Ostwand und Königssee. Später noch steiler hoch zur Gotzenalm, kleiner Abstecher kurz vor der Hütte zum Feuerpalven (sehr lohnenswert). Die großartige Küche auf der Gotzenalm und der Sonnenaufgang am Feuerpalven sprechen für eine Nacht auf der Hütte. Zurück auf gleichem Weg. www.berchtesgaden.de/rad-bike/mountainbike/gotzenalm
Tour II: Litzlalm, 18,3 km, 525 Höhenmeter, technisch und konditionell einfach
Route: Vom Parkplatz am Hintersee durch das zauberhafte Klausbachtal der Beschilderung folgen. Das schmale Asphaltband wird von mächtigen Gipfeln flankiert – super Panorama links und rechts. Die Strecke führt beim Hirschbichl kurz über die Landesgrenze nach Österreich. Die urgemütliche Litzlalm liegt auf einem Hochplateau mit Rundumblick. Die Tour führt in ein Bermuda-Dreieck aus gemütlichen Gaststätten. Achtung: Stirnlampe mitnehmen, falls es später wird. Abfahrt auf gleichem Weg. https://www.berchtesgaden.de/rad-bike/mountainbike/litzlalm
Tour III: Kührointalm, 24,5 km, 900 Höhenmeter, technisch einfach, konditionell mittel
Route: Von der Berchtesgadener Tourist-Info der Beschilderung (über Oberschönau) folgen. Ab Hinterschönau führt die Forststraße in weiten Kehren steil bergan zur Schapbachalm. Weiter geht’s immer mit brachialer Aus- und Einsicht in das Watzmann-Massiv auf der Forststraße. Die Sackgasse endet direkt vor der Kapelle bei der Kührointalm zu Füßen der Watzmannfrau. Der kleine Fußmarsch zur Achenkanzel ermöglicht eine kongeniale Vogelperspektive auf den Königssee und Sankt Bartholomä. Abfahrt auf gleichem Weg. www.berchtesgaden.de/rad-bike/mountainbike/kuehroint-ueber-schoenau
Über den Autor*Innen

Norbert Eisele-Hein
Der Münchner Fotojournalist Norbert Eisele-Hein finanzierte bereits sein Ethnologie-Studium in München und London mit bildgewaltigen Reisereportagen für namhafte Magazine. Ehe er sich vollauf der Outdoor- und Actionfotografie widmete, assistierte er bei zahlreichen Studiofotografen in München und London, um das Handwerk von der Pike auf zu lernen. Die Lust am Schreiben wuchs dabei beständig mit.